Skip to main content

Nachtwache am „Wilden Stein“ -Zuhören ist das Wichtigste

Das kleine Schwätzchen tut gut. Freudig erzählt der Senior in breitem Platt. Brigitte Kitterle nimmt den Faden auf, wechselt ins Oberhessisch und ihre sanfte Stimme bekommt einen kernigen Tonfall. Sie sprechen über den bevorstehenden Umzug vom Wilden Stein an die Seeme. „Die schee Aussicht werde mo scho vermisse“, sagt er. „Aba es is soa, wie es is“. „Es is soa, wie es is“, bestätigt die 51-Jährige, bevor sie freundlich-resolut ein „Gut’s Nächtle“ wünscht und die Türe hinter sich schließt.
Es ist eine halbe Stunde nach Mitternacht. Sie beginnt ihren zweiten Rundgang in der Senioren- und Pflegeeinrichtung am Wilden Stein. Behutsam drückt die Altenpflegerin die Türklinke des nächsten Zimmers herunter, geht leise in das Zimmer. Die beiden Bewohner schlafen.
Es ist still auf dem Gang. An den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Bilder von Bauernhöfen und Bilder aus der Zeit des Wirtschaftswunders. Frauen mit toupierten Frisuren werben für Feinstrumpfhosen. Auf einem anderen Bild üben sie den grazilen Gang.
Rote viereckige kleine Lichter schimmern auf dem Flur. In manchen Zimmern flimmert noch der Fernseher, ein rhythmisches Schnorcheln ist durch manche Türe zu hören, der Wasserautomat auf dem Gang blubbert leise und stoisch.
Eigentlich wollte Brigitte Kitterle Krankenschwester werden. Seit 1989 ist sie in der Altenpflege tätig. „Weil es hier durchgängig ist. Hier baut man einen Bezug zu den Bewohnern auf“, sagt sie. Brigitte Kitterle liebt ihren Beruf. Sie ist groß, hat ihre langen Haare nach hinten gebunden. Hinter der Brille blicken einen warme blaue Augen an. Der Beruf sei ihre Berufung, sagt sie.
Seit 25 Jahren ist sie in der „Senioren- und Pflegeeinrichtung Am Wilden Stein“ des DRK Kreisverbands Büdingen. Mit Herz und Umsicht kümmere sie sich um das Wohl der Bewohner, hatte die Leiterin der Einrichtung, Elke Leiß, die langjährige Mitarbeiterin anlässlich einer Ehrung beschrieben.
Um 19:45 Uhr beginnt ihr Dienst. Meist ist Brigitte Kitterle eine halbe Stunde zuvor im Haus. Bei der Übergabe erfährt sie von ihren Kolleginnen die Neuigkeiten über die Bewohner. Ob jemand ins oder aus dem Krankenhaus gekommen ist. Wer hat Probleme mit dem Blutdruck? Oder sie hört, wer in der Nacht gegangen ist. „Es ist nicht einfach, wenn sich jemand verabschiedet hat“, sagt sie.
Es kommen immer mehr Leute an den Wilden Stein, die sie seit ihrer Kindheit schon kennt. Ehemalige Nachbarn oder Bekannte. Da wird sie gefragt, was es Neues aus dem Ort gibt.
Beim ersten Rundgang um 20 Uhr reicht sie den Bewohnern zu trinken, lagert die Bettlägrigen um, wechselt die Einlagen, hilft bei Toilettengängen, verteilt die Medikamente, spricht mit allen. Um 22 Uhr wird bei den Diabetikern nochmals Blutzucker gemessen, Insulin verabreicht und eine Spätmahlzeit angeboten. Nach dem zweiten Rundgang um halb eins folgt gegen drei Uhr die dritte Runde. Um 6:45 Uhr wird sie schließlich vom Frühdienst abgelöst. Nach einer Woche Dienst hat sie eine Woche frei.
Die gebürtige Österreicherin hatte sich freiwillig für den Nachtdienst gemeldet. „Ich bin ohnehin ein Nachtmensch und habe auch keine Probleme tagsüber zu schlafen.“ Und im Nachtdienst habe sie eher die Möglichkeit mit den Senioren zu sprechen. Hinter jeder Türe stecke eine Geschichte und die Bewohner würden nachts viel erzählen. Von den Kindern oder Partnern, die sie schon verloren haben, ihrer Ehe, die eine gute gewesen sei, die Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, als sie Zuhause alles verändert vorgefunden hatten. Und über das, was sie zurückgelassen haben, was sie früher mit viel Kraft und Energie aufgebaut hatten. Viele der Bewohner legen Wert auf ihre Meinung. „Manchmal wollen mir die Leute etwas erzählen, finden aber nicht die richtigen Worte. Aber man kann schon zwischen den Zeilen lesen.“ Die Nächte sind lang. Zuhören sei das Wichtigste in ihrem Beruf, sagt die 51-Jährige.
Die letzten Nächte waren relativ ruhig. Es gibt aber natürlich auch Phasen, in denen die Glocke nonstop klingelt. Gerade ist sie mit einer Kollegin in einem Zimmer, um eine Frau auf die andere Seite legen, als ein gleichmäßiges Schlürfen auf dem Gang zu hören ist. Eine freundliche Dame in einem Rosè farbigen Pullover steht auf dem Flur: gekämmt, mit wachem Blick und einem Wecker in der Hand. Ob die Uhrzeit denn stimme? Ja, es ist halb eins – zu früh zum Aufstehen. Zufrieden mit der Auskunft und mit einem Augenzwinkern verabschiedet sich die Dame wieder, kehrt langsam in ihr Zimmer zurück.
Der Pieper meldet sich. Auf Station drei sind noch einige Bewohner ins Bett zu bringen, die es gewohnt sind, später einzuschlafen. Ein paar Senioren haben ihre Türen von innen verschlossen. Brigitte Kitterle wirft noch einen Blick in das Zimmer eines Ehepaares. Die beiden schlafen friedlich in den zusammengestellten Betten.
Der Rundgang ist beendet, die Altenpflegerin hat einen Moment Zeit, auf den Balkon zu gehen. Von hier hat sie einen tollen Blick über das schlafende Büdingen. Sie wird ein wenig wehmütig, wenn sie an den Umzug denkt. Sie ist in dem Haus am Wilden Stein „großgeworden“ und fühlt sich mit dem Haus verwurzelt. Hier hatte sie als Stationshilfe angefangen. Als sie Weihnachten 1997 ihre Examensurkunde in der Hand hielt, war das für sie das tollste Weihnachtsgeschenk. Um 2000 muss es gewesen sein, als aufgrund der Auflagen durch den Brandschutz ein Jahr lang das Haus umgebaut wurde. Es sei eine schwierige Zeit für Patienten und Personal gewesen, die sie jedoch gemeistert hatten.
Wenn der Pieper nicht klingelt, geht sie einen Augenblick in sich. Wenn es lange ruhig bleibt, guckt sie lieber zwischendurch nach, ob alles in Ordnung ist. „Es ist ein schöner Beruf. Er gibt mir unheimlich viel. Wenn ich vor der Entscheidung stünde, würde ich ihn wieder ergreifen.“ Bald ist Schichtwechsel. Es ist ruhig auf den Fluren. Brigitte Kitterle wirft noch die Kaffeemaschine für die Kolleginnen an. Es ist Morgen – Feierabend.